Ein Interview mit Dipl.-Ing. Stephanie Hilgers von der PHI Immobilienbewertung

Die Situation am Immobilienmarkt hat sich im letzten Jahr gewandelt – sind diese Änderungen auch für Immobiliengutachter/innen spürbar? Wenn ja, inwiefern?

Die Änderungen am Immobilienmarkt sind selbstverständlich auch für mich als Gutachterin spürbar, dokumentierte Verkehrswerte berücksichtigen das aktuelle Marktgeschehen. Die Nachfrage nach Wohneigentum ist zwar nach wie vor groß, das Nachfragesegment ist aktuell eher als mittelpreisig einzuordnen. Die hohe Zinssituation führt im Fall einer Finanzierung zu einer größeren Belastung als noch vor einem Jahr; dies beeinflusst die Möglichkeiten Einzelner. Insgesamt kann ein Wandel vom Verkäufer hin zum Käufermarkt beobachtet werden.

Wie sieht es bei der Nachfrage nach Gutachten aus?

Die Nachfrage nach Gutachten ist nahezu unverändert, und das in allen Bereichen: Banken, Erbengemeinschaften, Betreuungsgerichte oder Privatpersonen. Es zeigt sich aber, dass Übertragungen von Immobilien innerhalb von Familien gerade sehr häufig vorkommen.
Außerdem ist die Nachfrage nach einer professionellen Kaufberatung gestiegen. Den Interessenten bleibt mehr Zeit für die Kaufentscheidung; in der aktuellen Situation nehmen Interessenten gerne einen fachmännischen Rat in Anspruch, um ihre Kaufentscheidung mit einem sicheren Gefühl zu treffen.

Sie sagten bereits, das Nachfragesegment sei zur Zeit mittelpreisig einzuordnen: Zeigen sich durch den Wandel am Markt Wertverluste bei Gutachten im Vergleich zu Vorjahren?

Rein statistisch betrachtet sind keine großen Wertverluste zu beobachten. In vielen Bereichen stagnieren die Preise, in wenigen Teilbereichen ist ein Rückgang erkennbar. Da wir in den vorliegenden Jahren der Niedrigzinsphase zuvor einen so großen Boom erlebt haben, wird die momentane Lage am Markt von vielen Menschen drastischer wahrgenommen, als sie tatsächlich ist.

Inwiefern wirken sich die staatlichen Anforderungen bzgl. Klimabilanz von Immobilien auf Gutachten aus?

Die ESG-Kriterien sind bei der Erstellung von Gutachten seit dem 01.01.2023 in der BelWertV aufgenommen. Wichtig ist jetzt, Transparenz zu schaffen und Daten zu sammeln. Bei Gutachten soll natürlich ein Augenmerk darauf gelegt werden, aber nicht das Hauptaugenmerk: Der Markt soll in den Gutachten vollständig abgebildet werden. Es ist wichtig, dass eine “Doppelbestrafung” der Immobilie vermieden wird, denn Heizung, Dämmung oder Bauweise sind ja ohnehin schon im Gutachten berücksichtigt.
Die Auswirkungen der ESG-Kriterien sind aktuell noch nicht greifbar, um genaue Prognosen zu treffen, aber es ergeben sich neue Chancen und Perspektiven für den Markt. Deshalb ist es wichtig, sich jetzt für aktuelle Themen und die potenzielle Veränderung zu sensibilisieren. Die Aufnahme in der BelWertV zeigt, dass insbesondere Banken in Hinblick auf Sicherheiten die ESG-Kriterien langfristig nicht außer Acht lassen dürfen.

Warum sollte man gerade in der aktuellen Lage ein Gutachten erstellen lassen?

Für Verkäufer dient ein professionelles Gutachten als Orientierungshilfe, um ein neutrales Werturteil über die Immobilie zu erhalten. Ein Gutachten ist rein sachlich und frei von Emotionen, die man als Eigentümer vielleicht unbewusst bei der Preisfindung einfließen lässt.

Für Käufer bietet ein Gutachten oder auch eine Kaufberatung Hilfe und Sicherheiten bei der Kaufentscheidung. Ein Kurzgutachten kann beispielsweise eine gute Grundlage für Preisverhandlungen bilden.

Vielen Dank für das Interview!

Dipl.-Ing. Stephanie Hilgers ist Bauingenieurin sowie gemäß ISO/IEC 17024 zertifizierte Sachverständige für Immobilienbewertung (ZIS Sprengnetter Zert (S)). Darüber hinaus ist sie DEKRA-qualifizierte Immobilienmaklerin, ehrenamtliches Mitglied im Gutachterausschuss der Städteregion Aachen sowie Mitglied in der Ingenieurkammer IK Bau NRW. Seit 2020 leitet sie die PHI Immobilienbewertung.

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