Die diesjährige Verleihung des Internationalen Karlspreis war ein beeindruckendes und bewegendes Ereignis für die Stadt Aachen. Mit der Auszeichnung der belarussischen führenden politischen Aktivistinnen Swetlana Tichanowskaja, Veronica Tsepkalo und – stellvertretend für ihre inhaftierte Schwester Maria Kalesnikava – Tatsiana Khomich ehrten Karlspreis-Direktorium und Stadt Aachen drei herausragende Persönlichkeiten. Für die Laudatorin, Außenministerin Annalena Baerbock, sind sie „die mutigsten Frauen in Europa“.

Karlspreis-Direktorium und Stadt Aachen ehrten die drei „starken und furchtlosen Frauen“ in Würdigung ihres mutigen und ermutigenden Einsatzes gegen die brutale staatliche Willkür, Folter, Unterdrückung und die Verletzung elementarer Menschenrechte durch ein autoritäres Regime, für Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Annalena Baerbock betonte in ihrer Festrede: „Es ist mir eine persönliche und außergewöhnliche Ehre, auf die mutigsten Frauen in ganz Europa die Laudatio halten zu dürfen.“ Rund 600 Gäste wohnten der Zeremonie im Krönungssaal bei. Die abschließende große Kundgebung auf dem Katschhof mit hunderten Teilnehmerinnen und Teilnehmern sendete eine eindrückliche Friedensbotschaft von Aachen in die Welt.

Keine Sekunde ließ sie an diesem besonderen Tag das Plakat mit dem großen Foto aus den Fingern und hielt es stets demonstrativ vor ihrer Brust. Das Bild zeigte Maria Kalesnikava, die gemeinsam mit Swetlana Tichanowskaja und Veronica Tsepkalo am Himmelfahrtstag 2022 mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen ausgezeichnet worden ist. Doch Kalesnikava sitzt in Belarus in Haft – unter schweren Bedingungen. In Aachen nahm daher stellvertretend ihre Schwester Tatsiana Khomich den Preis mit entgegen – das Bild von Maria immer ganz nah am Herzen tragend. Unter dem Konterfei prangte die deutliche Aufforderung: #freekalesnikava.

Freiheit, Friede, Gerechtigkeit. Danach sehnen sich unzählige Belarussinen und Belarussen, die seit vielen Jahren unter einer brutalen Diktatur leiden. Doch der Widerstand gegen das Regime wächst. Seit 2020 sind die belarussischen führenden politischen Aktivistinnen Kalesnikava, Tichanowskaja und Tsepkalo die Gallionsfiguren dieser Bewegung. Sie rütteln auf. Sie erzählen eine Geschichte, die Menschen auf der ganzen Welt bewegt und inspiriert – so auch an diesen denkwürdigen Tagen in Aachen.

Swetlana Tichanowskaja, Veronica Tsepkalo und – stellvertretend für ihre inhaftierte Schwester Maria Kalesnikava – Tatsiana Khomich bedankten sich vor gut 600 Gästen im Krönungssaal des Aachener Rathauses für die Auszeichnung, die sie von Jürgen Linden, dem Vorsitzenden des Karlspreisdirektoriums, und Aachens Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen, überreicht bekamen. Vom Publikum gab es Standing Ovations. Zuvor hatte Annalena Baerbock, Außenministerin der Bundesrepublik Deutschland, eine beeindruckende Ansprache gehalten.

Tichanowskaja: „Der Karlspreis geht an alle Belarussen!“

Swetlana Tichanowskaja übernahm 2020 für ihren inhaftierten Gatten dessen Kandidatur und trat zur Präsidentschaftswahl an. Sie forderte Machthaber Alexander Lukaschenko heraus. In einer manipulierten Wahl verlor sie und musste aus dem Land fliehen. Ähnlich oder sogar schlimmer erging es ihren Mitstreiterinnen und vielen tausend Belaruss*innen. In Aachen sagte Tichanowskaja: „Lassen Sie mich klarstellen: Der Karlspreis gehört nicht mir, und auch nicht uns als Trio. Er geht an alle Belarussen. An die, die in ihrem friedlichen, gewaltfreien Kampf gegen die Tyrannei enorme Anstrengungen und Hingabe gezeigt haben. Der Preis gehört den belarussischen Frauen, Journalisten und furchtlosen Freiwilligen. Er gehört auch jedem Kind, das auf seine Mutter oder seinen Vater wartet, die ihm Gefängnis sitzen. Er gehört all denjenigen, die ihre Lieben nie mehr sehen werden.“

Tsepkalo: „Die hässliche Fratze der Diktatur“

Beeindruckend und bedrückend, rührend und persönlich: Das belarussische Trio zog die Gäste im Krönungssaal des Aachener Rathauses mit ihren Beiträgen völlig in ihren Bann. Als Veronica Tsepkalo – ohne Redemanuskript – frei und sehr privat vom Schicksal ihrer Familie berichtete, wie ihre sterbenskranke Mutter unter menschenunwürdigen Bedingungen in einem Minsker Krankenhaus an ein Bett gefesselt wurde, wie sie wenige Wochen später starb, da stockte vielen Zuhörer*innen der Atem. „In dem Moment, als ich meine Mutter so erleben musste, wurden mir die Augen geöffnet. Das war die hässliche Fratze der Diktatur.“ Im Krönungssaal berichtete Tspekalo von ihren lange geheim gehaltenen Familienwurzeln, die zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland führten. Ihr Großvater war Deutscher. Sie hat ihn nie kennengelernt. „Ich glaube fest daran, könnte er mich heute hier in Aachen erleben, würde er sagen: Ich bin sehr stolz auf meine Enkelin.“

Khomich: „Das diktatorische Regime wird bald Vergangenheit sein.“

Was alle drei Frauen eint, ist der hoffnungsvolle Blick in Richtung einer besseren Zukunft. Tatsiana Khomich sagte in ihrem Redebeitrag: „Im Moment schreiben die Belarussen nicht nur einzelne Seiten, sondern ganze Kapitel in der Geschichte über die Wiederherstellung von Demokratie und Freiheit in ganz Europa. Wir glauben, dass dieses Kapitel bald abgeschlossen sein wird und die diktatorischen Regime der Vergangenheit angehören werden. Einer Vergangenheit, die sich dieses Mal wirklich nie mehr wiederholen wird.“ Dafür benötige es weiterhin der uneingeschränkten Hilfe der internationalen Gemeinschaft, der europäischen Partner, betonte Khomich auch im Namen ihrer inhaftierten Schwester. Diese sitzt derzeit, wie rund 1300 andere politische Gefangene, unter unwürdigen Bedingungen in Belarus in Haft. Vor wenigen Tagen erst ist Kalesnikava vom Lukaschenko-Regime als Terroristin eingestuft worden.

Außenministerin Baerbock: „Die mutigsten Frauen in ganz Europa“

Doch die vielen politischen Gefangenen wie Maria Kalesnikava sind nicht allein, versicherte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock in ihrer vorangehenden Festrede. „Wir kämpfen mit euch gemeinsam! Für ein freies Belarus und eine gemeinsame europäische Friedensordnung“, versicherte Deutschlands oberste Diplomatin. Mehrfach drehte sich Baerbock vom Rednerpult direkt zu den drei Preisträgerinnen um, sprach sie herzlich und persönlich an. „Ich weiß, ihr seid für Millionen von Frauen in ganz Europa ein Vorbild!“ Da brandete langer Applaus auf, wie so häufig im Rahmen der Zeremonie. Baerbock zeichnete das Bild von drei jungen Frauen, die niemals vorhatten, politisch aktiv zu werden. Doch das Schicksal führte sie zusammen. Das brutale Vorgehen des Regimes in Belarus ließ ihnen keine andere Wahl. Seitdem stellen sie sich dem friedlichen Kampf gegen Gegner, die keine Skrupel kennen. „Es ist mir eine persönliche und außergewöhnliche Ehre, auf die mutigsten Frauen in ganz Europa die Laudatio halten zu dürfen“, so Baerbock. Und weiter sagte sie mit Blick zu Tichanowskaja, Tsepkalo und Khomich: „Euer Mut lässt sich nicht wegsperren. Eure Idee der Freiheit lässt sich nicht ins Exil vertreiben.“

Sibylle Keupen: „Ein Licht in dunklen Zeiten“

Die diesjährige Verleihung des Internationalen Karlspreises fand im Schatten des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine statt. Diese besonderen Umstände betonte Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen in ihrer Rede. Zugleich lenkte sie den Blick auf die mutige Entscheidung des Karlspreis-Direktoriums, mit den diesjährigen Preisträgerinnen neue Wege zu beschreiten – und das zehn Wochen, bevor Russlands Präsident Wladimir Putin seine Armee in die Ukraine einmarschieren ließ und großes Leid über Millionen Menschen brachte. Gerade diese Menschen, ob nun in der Ukraine oder zuvor schon seit vielen Jahren in Belarus, sind es, die für ein freies und selbstbestimmtes Leben stehen. „Das Bewahren der europäischen Idee steht im Mittelpunkt der diesjährigen Verleihung, die gleichzeitig eine Zäsur für den internationalen Karlspreis an sich darstellt. Denn zum ersten Mal in seiner Geschichte wurde eine europäische Bewegung aus dem Volk ausgezeichnet, die Widerstand gegen ein autokratisches System leistet“, sagte Keupen und führte weiter aus: „Mit der mutigen und politischen Entscheidung, die belarussische Opposition auszuzeichnen, mischt das Direktorium sich ein und ergreift eindeutig Partei: Für ein Europa der Freiheit und der Demokratie.“ Maria Kalesnikava, Swetlana Tichanowskaja und Veronica Tsepkalo seien dabei ein Licht in dunklen Zeiten. „Ihre Gesichter und ihre Namen stehen für zahllose Menschen, die in vielen Ländern dieser Welt auch gerade in diesem Moment um ihre Werte, ihr Leben und ihre Zukunft kämpfen und unvorstellbaren staatlichen Repressionen unterworfen sind. Diese Menschen brauchen unsere Unterstützung. Mehr denn je!“, so Keupen.


Begründung des Karlspreisdirektoriums

Das Direktorium begründet die Wahl der Preisträgerinnen unter anderem wie folgt: „Während sich innerhalb der EU eine zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber der politischen Dimension des europäischen Projekts Bahn gebrochen hat, tritt gerade an den Außengrenzen der Union die brüchige Kostbarkeit unserer Friedens- und Freiheitsordnung zutage.“ Und: „Seit dem vergangenen Jahr sind auch in Belarus die Stimmen der Demokratie, der Freiheit und des Rechts immer vernehmbarer geworden: erst einige, dann tausende, dann zehn-, dann hunderttausende. Und es sind vor allem drei mutige Frauen, die der Verfolgung und den Repressionen zum Trotz diesen Stimmen Gesicht gegeben haben und geben.“ Im Rahmen der Präsidentschaftswahlen 2020 gelingt, so die Begründung des Karlspreisdirektoriums, Swetlana Tichanowskaja gemeinsam mit Maria Kalesnikava und Veronica Tsepkalo, was der belarussischen Opposition über Jahrzehnte gefehlt hat: eine Bündelung der Kräfte. „Unter Hintanstellung vorangegangener Rivalitäten und politischer Unterschiede und unter Einbeziehung auch kleinerer Parteien und Gewerkschaften, die ihre Expertise und Ressourcen einbringen, bilden die drei so unterschiedlichen Frauen ein Bündnis, das vor allem ein großes Ziel eint: die Überwindung von Diktatur und Totalitarismus und ein demokratischer Aufbruch in Belarus.“

Friedenskundgebung auf dem Katschhof

Im Anschluss an die Zeremonie kamen die Preisträgerinnen mit vielen Gästen aus dem Krönungssaal und hunderten Besucher*innen auf dem Katschhof zu einer Friedenskundgebung zusammen – eine Premiere für den Aachener Karlspreis. Sie startete mit engagierten und mitreißenden Beiträgen von EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, Annalena Baerbock, dem früheren Karlspreisträger Martin Schulz, Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen und den drei Preisträgerinnen.

Den öffentlichen Schlusspunkt setzte das gemeinsam gesungene Lied „We shall overcome“. Dabei bildeten zahlreiche Menschen gemeinsam ein überdimensionales „Peace“-Zeichen auf dem Platz. Dieses eindrucksvolle Symbol sendet Aachen nach einem außergewöhnlichen und bewegenden Karlspreis-Tag in die Welt, die in diesen Zeiten an so vielen unterschiedlichen Orten unter Krieg, Unterdrückung und Gewalt leidet. Doch die Hoffnung auf bessere und gerechtere Zeiten lebt. Dafür stehen drei mutige belarussische Frauen, die mit ihren Worten, Gesten und Taten in Aachen berührt und die Menschen nachhaltig geprägt haben.

Der belarussische Musiker Lavon Volski auf der Katschhofbühne

Foto © TOP AACHEN